Kapitel 1: Die Stille des Ozeans
Detective Hannah Stein starrte auf die endlose Weite des Atlantiks. Die Sonne war gerade untergegangen, und das Meer hatte eine gespenstische Stille angenommen. Sie zog ihre Jacke enger um sich, obwohl die Luft noch mild war. Die Yacht „Nocturne“, die vor ihr im Hafen von Helmsport dümpelte, war ihr Ziel. Eine teure, moderne Schönheit, die in den letzten Tagen viel zu oft in ihren Berichten aufgetaucht war.
„Sind Sie sicher, dass das die richtige Spur ist?“ fragte ihr Partner, David Kerner, ein nüchterner, methodischer Ermittler, der immer das kleinste Detail hinterfragte.
„Es gibt keine Zufälle, David,“ antwortete Hannah und schob ihr dunkles Haar aus dem Gesicht. „Drei verschwundene Personen, alle zuletzt hier am Hafen gesehen, und alle Verbindungen führen zu dieser Yacht. Ich wette meinen letzten Cent darauf, dass wir hier etwas finden.“
Sie zogen ihre Ausweise hervor, als sie die Gangway zur „Nocturne“ betraten. Der Besitzer des Schiffes, ein gewisser Vincent Moreau, ein Millionär und angeblicher Philanthrop, war selbst verschwunden – spurlos. Sein Verschwinden war genauso mysteriös wie die der drei anderen, die zuletzt auf seinem Boot gesehen wurden.
Die Yacht wirkte unberührt, fast zu perfekt. Die weißen Ledermöbel und glänzenden Oberflächen schienen geradezu steril. Es roch nach Reinigungsmittel und teurem Parfüm, doch etwas in der Luft war falsch – ein Hauch von Salz und Eisen, der Hannahs Nackenhaare aufstellte.
„Ich fange unten an,“ sagte David und verschwand in Richtung der Kabinen. Hannah blieb im Salon zurück und ließ ihren Blick über die makellosen Oberflächen schweifen. Sie zog ein Paar Latexhandschuhe an und begann, die Schubladen zu durchsuchen. Nichts. Keine Papiere, keine persönlichen Gegenstände. Es war, als ob niemand je hier gelebt hätte.
Ihr Blick blieb an einem Bild hängen, das an der Wand hing. Es zeigte das Boot, allein auf offenem Meer. Der Himmel war düster, und die Wellen schienen lebendig – fast hungrig. Hannah trat näher heran, als sie etwas Seltsames bemerkte. Das Bild schien … falsch. Sie neigte den Kopf, und im reflektierenden Glas erkannte sie eine schwache Silhouette.
Sie wirbelte herum, doch da war nichts. Nur die endlose Stille der Yacht und das entfernte Rauschen des Hafens.
„Hannah!“ Davids Stimme durchbrach die Ruhe, und sie eilte nach unten. Er stand in der Kajüte, die offenbar Vincents persönliche Kabine war. Auf dem Boden lag ein aufgeschlagenes Logbuch. Die Seiten waren mit einer präzisen Handschrift gefüllt.
„Was ist das?“ fragte sie und trat näher.
David deutete auf einen Absatz. „Das hier ist gestern geschrieben worden, obwohl Vincent seit Wochen vermisst wird.“
Hannah las die Zeilen laut vor:
„Die See wird mich nicht loslassen. Ich habe gesehen, was ich nicht sehen sollte. Wenn jemand dies liest, bleibt weg. Das Wasser nimmt, was es will.“
David und Hannah tauschten einen Blick. „Das klingt nicht nach einem rationalen Mann,“ sagte David.
Doch bevor Hannah antworten konnte, hörten sie ein Geräusch. Ein leises Klopfen.
Es kam von außerhalb des Bootes.
Hannah zog ihre Waffe und schlich sich an Deck, David dicht hinter ihr. Das Klopfen wurde lauter, rhythmischer, wie ein Herzschlag. Sie leuchtete mit der Taschenlampe in die Dunkelheit und ließ den Lichtstrahl über die Wellen tanzen.
Da war es – ein kleines Ruderboot, das unruhig auf dem Wasser schaukelte. Es war alt, die Farbe abblätternd, und schien mit niemandem verbunden zu sein.
„Da ist niemand,“ flüsterte David.
„Aber da war etwas,“ widersprach Hannah und stieg langsam von der Yacht hinab zum Pier, näher an das Ruderboot heran.
Im Inneren lag ein Gegenstand, der das Mondlicht reflektierte. Ein goldenes Amulett, an einer Kette befestigt. Es war kalt, als Hannah es aufhob, und auf der Rückseite war eine Gravur:
„Für Vincent. In ewiger Treue, S.“
„Das gehört ihm,“ murmelte David.
Hannah nickte. Doch etwas anderes im Boot ließ sie innehalten. Am Boden waren dunkle Flecken – getrocknetes Blut.
Ein Platschen ließ sie herumfahren, doch es war nichts zu sehen. Nur das leise Schaukeln des Wassers, das Ruderboot und die unheimliche, drückende Stille des Hafens.
„Wir müssen das Boot durchsuchen, komplett,“ sagte sie, ihre Stimme fest, obwohl ihr Herz raste.
„Und was dann?“ fragte David leise.
„Dann finden wir heraus, ob Vincent wirklich tot ist – oder ob er noch lebt.“
Doch in ihrem Inneren wusste Hannah, dass die Antwort vielleicht schlimmer war als der Tod.
Kapitel 2: Der Abgrund
Hannah und David kehrten mit dem Amulett in den Salon der „Nocturne“ zurück. Der Fund ließ sich nicht leugnen: Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Yacht – oder mit den Menschen, die hier gewesen waren. Hannah legte das Amulett vorsichtig auf den Tisch und begann, ihre Gedanken zu ordnen.
„Das Blut im Ruderboot … es war alt,“ sagte sie leise, als ob sie es eher sich selbst als David erklärte. „Aber die Gravur auf dem Amulett ist eindeutig. Es gehört Vincent.“
David verschränkte die Arme. „Das bedeutet, dass er entweder in diesem Ruderboot war … oder, schlimmer noch, dass er jemandem begegnet ist, der ihn nicht lebend zurückgelassen hat.“
Hannah nickte. Die Worte ließen ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie spürte, dass sie auf etwas zusteuerten, das weit jenseits ihrer bisherigen Fälle lag. Doch es gab keine Zeit, sich von ihren Emotionen überwältigen zu lassen.
„Das Logbuch. Wir müssen herausfinden, was er noch geschrieben hat,“ sagte sie und ging zurück in die Kajüte.
Das Logbuch lag noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch, die letzte Seite schien sie förmlich anzustarren. Hannah blätterte vorsichtig zurück, während David sich in den Ecken der Kajüte umsah.
„Hier steht mehr,“ murmelte Hannah, als sie eine Eintragung fand, die zwei Tage vor Vincents Verschwinden verfasst worden war. Die Handschrift war ruhig, methodisch – bis zu einem Punkt. Plötzlich wurden die Zeilen hektisch, beinahe unlesbar.
„Ich weiß nicht, was ich gesehen habe,“ las sie vor. „Es war mitten auf dem Meer, eine Gestalt, ein Schatten. Es … war kein Mensch. Und doch sprach es zu mir. Es sprach, und ich konnte es nicht verstehen, aber ich wusste, dass ich zuhören musste.“
David trat näher. „Ein Schatten, der spricht? Das klingt wie der Beginn eines schlechten Horrorromans.“
Doch Hannahs Blick blieb auf einer anderen Passage hängen. „Hier: ‚Ich habe die Kette ins Ruderboot gelegt. Es soll mich beschützen. Aber ich glaube, es ist zu spät.‘“
David hob das Amulett vom Tisch auf und betrachtete es genauer. „Was auch immer das sein soll – es hat ihm nicht geholfen.“
Plötzlich erstarben die leisen Geräusche der Yacht. Kein Knarzen, kein Flüstern des Windes. Es war, als hätte jemand die Welt angehalten. Hannahs Atem wurde flach, als sie aufblickte und in Davids geweiteten Augen denselben Gedanken sah: Etwas war hier.
Ein dumpfer Schlag hallte von der Treppe zum Maschinenraum.
Hannahs Hand wanderte zu ihrer Waffe. Sie tauschte einen Blick mit David, dann gingen sie in die Hocke und schlichen sich zur Treppe. Die Schritte wurden schneller, unruhiger, und je näher sie kamen, desto klarer wurde es, dass es kein Tier war, das sich unten bewegte.
„Polizei!“ rief David, seine Stimme fest, aber kontrolliert.
Keine Antwort.
Hannah deutete ihm, die Treppe hinunterzugehen. Ihre Herzen schlugen im Gleichklang, als sie gemeinsam die dunklen Stufen hinuntergingen. Das Licht flackerte, und eine schwere Feuchtigkeit lag in der Luft.
„Da vorne!“ flüsterte David, als sie einen Schatten sahen, der sich am Ende des Ganges bewegte.
Hannah hob die Taschenlampe und leuchtete nach vorne. Der Lichtkegel erfasste eine Gestalt, die an einer Wand lehnte. Es war ein Mann, abgemagert, mit tiefen Augenhöhlen, die sie wie schwarze Löcher anstarrten.
„Vincent Moreau,“ sagte Hannah leise.
Der Mann zitterte, seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam heraus. Sein Hemd war zerrissen, seine Haut mit Salz verkrustet, und seine Hände krallten sich in eine rostige Eisenstange.
„Herr Moreau, können Sie uns hören?“ fragte David, während er sich langsam näherte.
Plötzlich schrie Vincent auf, ein markerschütternder Laut, der das enge Metalldeck vibrieren ließ. Er stürzte nach vorne, doch Hannah reagierte schnell, packte ihn und drückte ihn zu Boden.
„Ruhig! Sie sind in Sicherheit,“ sagte sie, obwohl ihr Herz raste.
Vincent starrte sie an, seine Augen weit aufgerissen. „Es kommt … es ist hier … ihr versteht nicht! Es wird mich holen! Es wird euch alle holen!“
Hannah sah David an, aber bevor sie etwas sagen konnte, begann Vincent zu lachen. Es war ein unnatürliches, hohles Lachen, das in einem heiseren Röcheln endete.
„Was wird Sie holen?“ fragte sie.
Vincent packte ihren Arm mit einer Kraft, die sie nicht erwartet hatte. Seine Lippen bebten, als er ein Wort formte, das wie ein Flüstern klang.
„Das Meer.“
In diesem Moment erlosch das Licht, und die Yacht wurde in absolute Dunkelheit gehüllt.
Kapitel 3: Der stumme Zeuge
Die Dunkelheit auf der Yacht war absolut. Hannahs Taschenlampe flackerte, dann verlosch auch sie, als wäre die Batterie plötzlich leer gesaugt worden. Alles, was blieb, war das unheimliche Geräusch der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen, und Vincents röchelnder Atem, der durch die Enge des Maschinenraums hallte.
„David?“ Hannah tastete nach ihrem Partner, ihre Stimme knapp über einem Flüstern.
„Hier!“ Seine Hand berührte ihre Schulter. „Was zum Teufel war das gerade?“
Bevor sie antworten konnte, begann Vincent erneut zu lachen. Doch diesmal klang es nicht wie ein Mensch, sondern wie etwas Fremdes, Verzerrtes. Der Klang hallte durch den Maschinenraum, und Hannah hatte Mühe, den Mann ruhig zu halten.
„Vincent!“ rief sie. „Reißen Sie sich zusammen! Wer oder was kommt? Was meinen Sie mit ‚das Meer‘?“
Doch Vincents Blick war nicht mehr bei ihnen. Er starrte über ihre Köpfe hinweg in die Dunkelheit, als ob er etwas sah, das sie nicht sehen konnten. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte, die nicht mehr menschlich klangen.
David zündete ein Streichholz an, um Licht zu schaffen. Der kleine Flammenrest ließ Vincents Gesicht kurzzeitig sichtbar werden. Seine Augen waren weit aufgerissen, und seine Pupillen schienen sich wie schwarze Strudel zu drehen.
„Er ist völlig durchgedreht,“ murmelte David und richtete sich auf. „Wir müssen ihn zurück an Deck bringen, bevor—“
Ein lautes Poltern ließ sie innehalten. Es kam von oben, vom Deck, und klang wie schwere Schritte. Doch es waren keine normalen Schritte. Sie waren langsam, rhythmisch, und klangen, als würden sie von etwas kommen, das nicht menschlich war.
„Was war das?“ flüsterte David, sein Blick in die Dunkelheit gerichtet.
„Keine Ahnung, aber wir müssen hier raus,“ antwortete Hannah. Sie packte Vincent und zog ihn auf die Beine. Doch er wehrte sich mit einer Kraft, die sie überrascht hatte.
„Ihr könnt nicht entkommen,“ murmelte er, seine Stimme heiser. „Es gehört uns allen. Es hat mich gefunden, und jetzt hat es euch gefunden.“
„Wovon reden Sie?“ fragte Hannah scharf, doch Vincent begann, wild um sich zu schlagen.
In dem Chaos ließ sie ihn los, und Vincent fiel zu Boden. Mit einer Geschwindigkeit, die sie nicht erwartet hatten, kroch er in die Dunkelheit des Maschinenraums, als wäre er von etwas Unsichtbarem geführt.
„Bleib hier!“ rief Hannah, doch es war zu spät. Vincents schlurfende Bewegungen und sein Röcheln wurden von einem markerschütternden Schrei unterbrochen – einem Schrei, der abrupt verstummte.
David richtete seine Taschenlampe in die Richtung, in die Vincent gekrochen war, doch es war nichts zu sehen. Nur die nackten Wände und Rohre des Maschinenraums – und der stete Klang der Wellen.
„Er ist weg,“ sagte David, seine Stimme angespannt.
„Das ist unmöglich,“ erwiderte Hannah und leuchtete selbst in die Dunkelheit. „Da ist kein Ausgang … nichts. Er kann nicht einfach verschwunden sein.“
David sah sich um, seine Haltung angespannt. „Wir sollten an Deck gehen. Was auch immer hier unten ist, wir sind ihm ausgeliefert.“
Hannah nickte, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zur Treppe. Doch die Schritte, die sie zuvor gehört hatten, waren verstummt. Die Stille war fast noch schlimmer.
Als sie an Deck traten, wehte ihnen eine eiskalte Brise entgegen, die nicht zum ansonsten milden Wetter passte. Der Mond war hinter dichten Wolken verschwunden, und das Meer war tiefschwarz.
„Was, wenn das hier nicht nur ein Unfall ist?“ fragte David leise, während er sich umsah. „Was, wenn wir absichtlich hierher gelockt wurden?“
Hannahs Blick wanderte zum Horizont, wo die Dunkelheit und das Meer verschmolzen. „Das würde erklären, warum Vincent hierher zurückgekehrt ist. Aber wieso? Und was hat ihn so … verändert?“
Plötzlich sahen sie es: Etwas Großes, Dunkles tauchte am Horizont auf. Es bewegte sich langsam, wie ein riesiger Schatten, der durch das Wasser glitt. Doch es war kein Schiff. Es hatte keine Form, die sie erkennen konnten, nur diese unfassbare Dunkelheit, die sich näherte.
„David … siehst du das?“
„Ja,“ antwortete er, seine Stimme nur ein Flüstern. „Und ich wünschte, ich würde es nicht sehen.“
Das Ding am Horizont schien sich nicht nur auf sie zuzubewegen – es schien sie zu verschlucken. Das Wasser um die „Nocturne“ wurde immer unruhiger, und Wellen schlugen gegen den Rumpf.
„Wir müssen den Notruf senden,“ sagte Hannah, doch als sie zum Funkgerät eilte, funktionierte es nicht mehr.
„Es wird uns holen,“ murmelte David. „Das Meer … Vincent hatte recht. Es wird uns alle holen.“
In diesem Moment erlosch das letzte Licht auf der Yacht, und die Dunkelheit übernahm vollständig.
Kapitel 4: Das Herz der Dunkelheit
Die Dunkelheit war so absolut, dass Hannah und David sich nicht einmal gegenseitig sehen konnten. Der salzige Geruch des Meeres mischte sich mit etwas Fremdem, einer metallischen Note, die ihre Nerven noch stärker anspannte. Das unheimliche Rauschen des Wassers hatte eine neue Dimension angenommen – es klang, als würde das Meer atmen.
„Hannah?“ Davids Stimme zitterte. „Bist du noch da?“
„Ja,“ flüsterte sie zurück, ihre Hände suchten nach Halt. „Wir müssen ruhig bleiben.“
Plötzlich erklang ein langgezogenes, tiefes Geräusch. Es war weder ein Schiffshorn noch ein natürliches Geräusch des Meeres. Es klang wie das Stöhnen einer alten Kreatur, deren Schmerz durch die Zeit selbst hallte. Hannah fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
„Was … was ist das?“ flüsterte David.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete Hannah und zog ihn instinktiv näher. „Aber wir müssen rausfinden, was hier los ist.“
Das unheimliche Geräusch wurde lauter, und das Wasser um die Yacht begann heftig zu tosen. Sie spürten, wie das Boot schwankte, als ob etwas Großes unter ihnen hindurchgleiten würde.
„Lass uns nachsehen,“ sagte Hannah entschlossen und griff nach ihrer Taschenlampe, die plötzlich wieder funktionierte. Der Lichtstrahl war schwach, aber ausreichend, um den Weg zum Bug der Yacht zu erhellen.
Als sie sich vorwärts bewegten, bemerkten sie, dass der Boden der Yacht feucht war. Eine dünne Schicht Wasser hatte sich in der Dunkelheit ausgebreitet. Es war eisig kalt und schien von unten durch die Planken zu sickern.
„Das ist nicht normal,“ murmelte David.
Am Bug angekommen, richteten sie den Lichtstrahl aufs Meer – und hielten den Atem an. Direkt vor ihnen, nur wenige Meter entfernt, erhob sich etwas aus dem Wasser. Es war kein Schiff, kein Tier, sondern … etwas anderes.
Eine gigantische Struktur aus schwarzem, glänzendem Material ragte aus den Wellen. Es sah aus wie ein Monolith, aber mit bizarren, organischen Formen, die sich in die Höhe wanden. Es schien lebendig zu sein, pulsierend wie ein Herzschlag. In seiner Mitte öffnete sich ein Spalt, der wie ein gigantisches Auge wirkte, doch anstelle einer Iris zeigte er unendliche Dunkelheit.
„Das … ist nicht möglich,“ stammelte David. „Das kann nicht real sein.“
Doch bevor Hannah etwas sagen konnte, veränderte sich das Geräusch. Es war kein Stöhnen mehr, sondern ein Flüstern. Tausende von Stimmen, die in einer fremden Sprache sprachen, vermischten sich zu einem Chor, der in ihrem Kopf widerhallte. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben.
„Hör nicht hin!“ schrie sie und hielt sich die Ohren zu. Doch die Stimmen drangen direkt in ihren Verstand ein, unaufhaltsam wie die Wellen des Meeres.
David stand starr da, seine Augen weit geöffnet. „Sie … sprechen mit uns,“ sagte er leise. „Es will, dass wir zuhören.“
Hannah packte ihn an den Schultern. „Reiß dich zusammen! Wir müssen hier weg!“ Doch als sie ihn ansah, erkannte sie, dass es zu spät war. Sein Gesicht war leer, und seine Augen hatten denselben schwarzen Strudel wie Vincents angenommen.
„David, nein!“ schrie sie, doch er stieß sie zurück, mit einer Kraft, die nicht menschlich war. Sie fiel zu Boden, und ihre Taschenlampe rollte davon, sodass sie erneut im Dunkeln war.
„Es ist zu spät,“ sagte David, seine Stimme fremd und kalt. „Es gehört uns allen.“
Hannah rappelte sich auf, ihr Herz raste. Sie musste einen Ausweg finden, doch das Monolithenwesen schien sie zu beobachten. Sie spürte seine Präsenz, wie es sie umhüllte, und die Stimmen wurden lauter, drängender.
Sie rannte zurück in den Maschinenraum, suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, die Yacht zu starten. Doch die Kontrollen reagierten nicht. Die Stimmen in ihrem Kopf wurden unerträglich, und sie spürte, wie ihre eigene Wahrnehmung zu zerbrechen begann.
In ihrer Verzweiflung griff sie nach einem Notsignal – einer Leuchtpistole, die an der Wand hing. Sie wusste, dass es sinnlos war, doch es war das Einzige, was ihr blieb.
Als sie zurück an Deck kam, sah sie, wie David auf das Monstrum zuging. Seine Bewegungen waren mechanisch, wie die eines Schlafwandlers. Das Wasser um ihn herum schien ihn zu umarmen, ihn hineinzuziehen.
„David!“ schrie sie, doch er reagierte nicht.
Sie hob die Leuchtpistole und zielte auf das pulsierende Zentrum des Monolithen. Mit einem letzten Aufschrei drückte sie den Abzug. Ein greller Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit, und für einen Moment verstummten die Stimmen.
Das Monolithenwesen reagierte. Es zog sich zurück, als ob das Licht es verbrannte. Doch mit ihm verschwand auch David, dessen Körper im Wasser versank.
Hannah sank auf die Knie, erschöpft und schockiert. Die Dunkelheit um sie herum löste sich langsam auf, und der Mond kam wieder zum Vorschein. Das Monstrum war verschwunden, als ob es nie da gewesen wäre.
Doch sie wusste, dass es nicht vorbei war. Es war noch da, irgendwo in den Tiefen des Meeres, wartend.
Abschlussteil: Die Wahrheit in den Wellen
Hannah saß allein auf dem Deck der Yacht, ihre Hände zitterten immer noch um die Leuchtpistole, die längst nicht mehr geladen war. Das Meer lag wieder still da, als hätte es nie das Chaos von vor wenigen Minuten gegeben. Die Dunkelheit wich einem fahlen Dämmerlicht, und die ersten Strahlen der Morgensonne tauchten die Szenerie in ein blutiges Rot.
„David …“, flüsterte sie. Sein Name fühlte sich wie ein Schrei an, der in der Stille verschluckt wurde.
Das Wasser, das vor kurzem noch gegen das Boot geschlagen hatte, war jetzt wie Glas, ruhig und unheimlich. Doch Hannah wusste, dass diese Ruhe trügerisch war. Sie spürte, wie das Gewicht des Erlebten sie zu überwältigen drohte. Jeder Gedanke an Flucht, an Überleben, wurde von einer anderen, schrecklicheren Erkenntnis überschattet: Sie war nicht allein – nicht wirklich.
Langsam richtete sie sich auf und ließ ihren Blick über die endlosen Wellen gleiten. Der Monolith war verschwunden, aber sein Echo schwebte immer noch in der Luft. Es war, als würde das Meer selbst eine Geschichte flüstern, die nur sie hören konnte.
„Du bist noch nicht fertig.“
Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, so leise und zugleich so klar, dass sie die Leere durchbrachen. Es war nicht ihre eigene Stimme, sondern etwas Anderes, etwas Fremdes – und doch vertraut. Sie hielt inne, ihr Atem stockte.
„Was wollt ihr von mir?“ schrie sie in die Stille, ihre Stimme brach unter der Last der Angst. Doch keine Antwort kam. Nur das Meer antwortete mit einem sanften Plätschern, als ob es mit ihr spielte.
Hannah stolperte zurück in den Maschinenraum, ihre Bewegungen hastig und mechanisch. Sie musste die Yacht in Gang bringen, musste von diesem verfluchten Ort fliehen. Sie zog an Hebeln, drückte Knöpfe, doch alles blieb still. Der Motor reagierte nicht, und der Funk war tot. Es war, als wäre sie in einer anderen Welt gefangen – einer Welt, in der die Regeln der Realität keine Bedeutung mehr hatten.
Dann fiel ihr Blick auf Vincents Koffer, der immer noch in der Ecke des Raumes lag. Das Schloss war halb gebrochen, als ob er versucht hatte, es in Eile zu öffnen. Sie zögerte nur kurz, bevor sie sich hinkniete und den Koffer aufriss. Drinnen fand sie Papiere, kryptische Karten, alte Bücher mit vergilbten Seiten – und ein einzelnes Foto.
Hannah zog das Bild heraus. Es war alt, verblasst und zeigte eine Gruppe von Männern und Frauen, die auf einem Deck standen. Sie alle trugen schwere Mäntel, und im Hintergrund war das gleiche Monstrum zu sehen, das sie selbst erlebt hatte. Die Gesichter der Personen waren seltsam verzerrt, als ob sie nie wirklich menschlich gewesen wären. Doch was sie wirklich verstörte, war das Gesicht einer Frau in der Mitte – ihr eigenes.
Hannah ließ das Foto fallen, als hätte es sie gebissen. Das Bild rutschte über den Boden und blieb mit der Rückseite nach oben liegen. Darauf stand in krakeliger Handschrift eine einzige Zeile:
„Du warst immer ein Teil von uns.“
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Gedanken rasten, doch nichts ergab Sinn. Warum war sie auf diesem Foto? Was hatte Vincent hier wirklich gesucht? Und wieso fühlte sie plötzlich, dass ihre Erinnerungen brüchig und falsch waren – als hätte jemand ihre Vergangenheit umgeschrieben?
Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Langsam drehte sie sich um, die Leuchtpistole noch immer in der Hand, obwohl sie wusste, dass sie nichts mehr abfeuern konnte. Ihre Finger zitterten, als sie das Deck betrat und sich umsah.
Und da stand er.
David. Tropfnass, mit einem leeren Blick, aber aufrecht. Seine Kleidung war zerrissen, seine Haut unnatürlich bleich, und seine Augen hatten einen unheimlichen Glanz, der nicht von dieser Welt war.
„David?“ flüsterte sie, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.
„Du hast es endlich verstanden, Hannah,“ sagte er, seine Stimme seltsam hohl. „Es gibt kein Entkommen. Du bist ein Teil davon, so wie ich es jetzt bin. So wie wir es immer waren.“
Hannah schüttelte den Kopf, Tränen stiegen in ihre Augen. „Nein! Das stimmt nicht!“
David trat näher, und mit jedem Schritt schien das Meer wieder lebendig zu werden. Die Wellen schlugen stärker gegen die Yacht, und das unheimliche Flüstern kehrte zurück. Es durchdrang ihren Geist, machte es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Du kannst kämpfen, so wie ich es getan habe,“ sagte David, seine Stimme klang nun fast mitleidig. „Aber das Meer bekommt uns alle. Früher oder später.“
Hannah stolperte rückwärts, bis sie an der Reling stand. Das kalte Metall drückte sich in ihren Rücken, und hinter ihr lag nur das unendliche Meer. Sie sah in Davids Augen und erkannte, dass der Mann, den sie gekannt hatte, nicht mehr existierte.
„Ich werde niemals aufgeben,“ flüsterte sie und spürte, wie sich etwas in ihr regte – ein Funken von Widerstand, der trotz allem nicht erloschen war.
„Das sagst du jetzt,“ erwiderte David und streckte eine Hand nach ihr aus. „Aber du gehörst uns.“
Bevor sie antworten konnte, öffnete sich das Meer erneut, und das unheimliche Monstrum tauchte wieder auf. Seine gigantische Form erhob sich über die Yacht, und das Auge in seiner Mitte fokussierte sich direkt auf sie. Die Stimmen wurden zu einem markerschütternden Schrei, und alles um sie herum begann zu beben.
Hannah sah in das pulsierende Dunkel des Wesens und wusste, dass dies der Moment war. Der Moment, in dem sie entweder vollständig verschlungen wurde – oder endlich frei war.
Mit einem letzten, verzweifelten Schrei sprang sie über die Reling ins Meer.
Die Kälte des Wassers durchdrang sie bis auf die Knochen, doch sie kämpfte gegen die Strömung an. Sie wusste nicht, wohin sie schwamm, nur dass sie wegmusste. Die Stimmen wurden lauter, das Monstrum näher, doch in ihrem Inneren spürte sie etwas Neues – einen Kern von Stärke, der sie weitertrieb.
Und dann wurde alles still.
Epilog: Die Stille danach
Hannah erwachte an einem fremden Ufer. Die Sonne brannte heiß auf ihrer Haut, und die salzige Luft war still – fast friedlich. Sie drehte sich um und sah das endlose Meer hinter sich. Es war ruhig, unschuldig, als ob es nie etwas anderes gewesen wäre.
Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass es nicht vorbei war. Das Meer hatte sie gehen lassen – aber warum? Und wie lange, bevor es sie zurückforderte?
Hannah richtete sich auf, ihr Blick entschlossen. Sie war am Leben, aber sie würde nicht aufgeben, die Wahrheit zu finden. Über das Meer. Über sich selbst. Und über das, was dort draußen auf sie wartete.
Denn die Dunkelheit war immer noch da, lauernd in den Wellen.