Kapitel 1: Die Dunkelheit der Vorstellung
Es war eine regnerische, neblige Nacht, als die Freunde sich entschlossen, das verlassene Zirkuszelt zu betreten. Der Jahrmarkt „Luna Mystica“, einst ein Ort der Freude, war nun ein verblasster Fleck in der Geschichte der kleinen Stadt. Das Zelt war schon seit Jahren unbenutzt, und doch waren sich die Kinder sicher, dass es noch immer etwas verbarg, das darauf wartete, entdeckt zu werden.
„Ich wette, es gibt hier noch Überreste vom Zirkus“, sagte Lucy, als sie die frische, feuchte Luft einatmete. Der Regen prasselte auf die abgenutzten Stühle des Jahrmarktes, die fast schon von der Natur verschluckt wurden. Doch das Zelt war noch immer aufrecht, als wäre es darauf ausgerichtet, sie zu empfangen.
Max, der stets der Skeptiker war, verzog das Gesicht. „Seid ihr sicher, dass wir da reingehen sollen? Es sieht aus, als ob der ganze Zirkus seit Jahren nicht mehr benutzt wurde.“
„Natürlich gehen wir da rein“, sagte Lucy und nahm die Taschenlampe in die Hand. Sie war entschlossen. Es war keine Angst in ihrem Blick zu finden, nur das Verlangen, das Geheimnis des verlassenen Ortes zu lüften.
Das Zelt war groß, aber es hatte etwas Unheimliches an sich. Überall hingen Staub und Spinnweben von den Wänden. Die Kulissen des einst prächtigen Zirkus sahen aus wie die Ruinen einer längst vergangenen Zeit. Der Zirkus hatte seine besten Tage weit hinter sich. Aber als sie weitergingen, in die dunklen Ecken des Zelt-Innenraums, spürten sie, dass hier etwas anderes lauerte.
„Seht euch das an“, rief Sarah, als sie eine Reihe alter Spiegel entdeckte, die sich entlang einer Wand aufgereiht hatten. Jeder Spiegel war schmutzig, von der Zeit gezeichnet und verdreht. Doch einer von ihnen stach besonders hervor.
Es war ein riesiger, altmodischer Spiegel, dessen Rahmen in tiefem Schwarz glänzte und mit feinen goldenen Verzierungen umrahmt war. Doch das Erschreckendste an diesem Spiegel war das Bild, das sich darin zeigte – ein verzerrtes, entstelltes Gesicht. Ein Clown, mit einem grotesk verzerrten Lächeln, das im trüben Licht der Taschenlampe zu leben schien.
„Das ist ja unheimlich“, flüsterte Max, als er näher trat. Doch das Bild im Spiegel schien zu reagieren, als würde es sich ihnen bewusst zuwenden. Max erstarrte. „Das Bild… es verändert sich.“
Plötzlich huschte eine Bewegung durch den Spiegel – oder war es nur ein flimmerndes Licht? Die Kinder starrten gebannt.
„Hast du das auch gesehen?“ fragte Sarah, ihre Stimme zitterte. Sie konnte das Gefühl der Kälte nicht abschütteln, das plötzlich den Raum erfüllte.
Doch ehe jemand antworten konnte, begannen die Lichter zu flackern, die Taschenlampen ließen ein seltsames Summen hören und der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich unheimlich wackelig.
„Es ist nur die Technik“, versuchte Lucy zu sagen, doch ihre Stimme verriet mehr Nervosität, als sie zugeben wollte.
In diesem Moment geschah etwas, das ihr den Atem nahm. Das Bild des Clowns im Spiegel begann zu lachen – ein grausames, schauriges Lachen, das wie ein zerbrochener Riss in der Stille des Zeltinneren klang. Das Geräusch hallte von den Wänden zurück, als ob es die Dunkelheit selbst durchbrach.
„Oh Gott“, flüsterte Sarah, „wir müssen hier raus.“
Doch es war zu spät. Das Lachen verstummte nicht. Es wurde lauter, unaufhaltsamer, und aus dem Spiegel trat eine Gestalt hervor – der Clown, der nicht nur im Spiegel war, sondern real und lebendig, mit einem unheimlichen Lächeln und Augen, die von einer dunklen, bösartigen Freude glänzten.
„Ich habe euch erwartet“, flüsterte der Clown, und seine Worte schnitten durch die Luft wie ein scharfer Dolch. „Ihr seid genau, was ich brauche.“
Die Kinder wollten schreien, wollten weglaufen, doch ihre Füße schienen am Boden festzukleben. Der Clown bewegte sich auf sie zu, und mit jedem Schritt wurde die Luft kälter. Ein grauenhaftes Gefühl des Unheils legte sich wie eine Decke über sie.
Doch als sie endlich fliehen wollten, war der Ausgang des Zeltes nicht mehr da. Alles, was sie sahen, war der Clown, dessen Lächeln immer breiter und absurder wurde, je näher er ihnen kam.
„Nichts geht hier verloren, Kinder“, sagte der Clown leise, „ihr seid Teil meiner Vorstellung.“
Kapitel 2: Der Tanz des Clowns
Der Clown bewegte sich langsam und mit einer erschreckenden Gelassenheit auf die Kinder zu. Ihr Herz pochte wie wild, während ihre Beine gegen ihren Willen verharrten. Der Raum um sie herum schien sich zu dehnen und zu verzerren. Es war, als würde das Zelt selbst sie in seinen Falten gefangen halten, ihre Versuche, sich zu bewegen, schienen vergeblich.
„Warum… warum tut er das?“ flüsterte Max, seine Stimme war kaum mehr als ein heiserer Hauch. Seine Augen weiteten sich vor Angst, als der Clown mit jedem Schritt näher kam, das absurde, unheilvolle Lächeln auf seinem verfremdeten Gesicht nie verlierend.
Der Clown sprach kein weiteres Wort, doch seine Augen funkelten vor Freude. Die Farben in seinem Gesicht wirkten surreal, seine schneeweiße Haut schien fast transparent zu sein, und die Narben um seinen Mund sahen aus, als wären sie tief in das Fleisch geschnitten worden, nur um zu einem immer weiter grinsenden Lächeln zu verkommen. Und mit jedem seiner Schritte klang das groteske Kichern lauter, wie das Geräusch von Glas, das über den Boden schabt.
„Ihr seid Teil meiner Show“, sagte der Clown in einem übertriebenen, singenden Tonfall. Seine Stimme hallte durch das Zelt, als würde sie von einer unsichtbaren Wand zurückgeworfen werden. „Ich habe so lange gewartet, bis jemand den Weg zu mir findet.“
Sarah, die immer noch wie gelähmt in der Ecke stand, starrte den Clown mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Körper schrie nach Flucht, doch etwas anderes hielt sie fest. Ein seltsames Band aus Macht, das der Clown über sie zu haben schien. Als er näher kam, war es, als würde sich die Dunkelheit um sie herum verdichten, als ob sie in einem Albtraum gefangen waren, aus dem es keinen Ausweg gab.
„Warum? Was willst du von uns?“ rief Lucy, ihre Stimme war ein Kratzen in ihrer Kehle. „Warum bist du hier?“
Der Clown lachte erneut, dieses Mal in einem verzerrten, fast schon ekelhaften Tonfall, der die Luft regelrecht zum Vibrieren brachte. Es war, als würde der Klang in den Eingeweiden des Zeltes widerhallen, als ob der Zeltboden selbst auf das Lachen reagierte.
„Ihr fragt nach dem Warum?“ Der Clown beugte sich zu ihnen hinab, seine Augen leuchteten unheilvoll. „Es ist nicht das Warum, das euch interessieren sollte. Es ist das Was.“
Max versuchte sich zu bewegen, doch seine Füße schienen an den Boden gebannt zu sein. Der Clown nahm nun die Masken ab – mehrere, die er im Zelt versteckt hatte. Jede Maske war entstellt, ekelerregend und verzerrt. „Was ihr hier entdeckt habt, ist mehr als nur ein Zirkus“, erklärte der Clown mit einer grausamen Ruhe. „Es ist ein Ort, an dem die tiefsten Ängste von allen Wesen, die ich ernte, zum Leben erweckt werden.“
Sarah schluckte schwer. „Ernte? Du hast uns hierhergelockt, um uns zu… fressen?“
Der Clown schüttelte langsam den Kopf. „Nicht fressen, meine Liebe. Ich nehme euch nicht, um euch zu töten. Ich nehme euch, um euch zu zeigen. Ihr werdet alle die dunklen Geheimnisse erleben, die in dieser Welt vergraben sind, und ich werde euch auf diesem Weg begleiten.“
Der Zirkus, so stellte sich heraus, war niemals das, was er zu sein schien. Es war ein Ort des Verborgenen und des Verfluchten, ein Zuhause für all jene, die in den Abgrund blickten, ohne den Mut zu haben, zurückzusehen. Und der Clown, der wie ein Dämon in menschlicher Form wirkte, war derjenige, der diese Menschen verführte, in die Schatten zu gehen.
Plötzlich öffnete sich ein rissiger Vorhang am Rand des Zeltes, und eine weitere Gestalt trat hervor. Ein weiteres Wesen, ebenso unheimlich und abstoßend, wie der Clown selbst. Sie war eine Frau – oder vielmehr das, was von ihr übrig war. Ihre Haut war verwest und zerfressen, als wäre sie in einem unaufhörlichen Verfall begriffen. Ihr Kopf war von glühenden roten Augen durchzogen, und ihre Knochen schimmerten unter der zerrissenen Haut.
„Er hat sie auch geholt“, flüsterte Max mit entsetztem Blick. „Was ist das für ein Ort?“
„Das ist der wahre Zirkus“, antwortete die verstümmelte Frau in einer trockenen, kratzigen Stimme, „ein Zirkus für verlorene Seelen.“ Ihre Hand griff nach einer der Masken, die der Clown von seinem Gesicht entfernt hatte. „Die wahre Vorstellung wird gerade erst beginnen.“
Lucy konnte sich endlich rühren und griff nach Max’ Arm. „Wir müssen hier raus! Sofort!“ Doch während sie versuchte, ihn zu bewegen, spürte sie, wie der Boden sich unter ihnen verschob. Der Zeltboden war nicht mehr stabil. Die Wände schienen zu schwanken, als würde sich der Raum um sie herum drehen.
„Weg hier!“, schrie sie, als der Clown und die Gestalt der Frau sich ihnen immer weiter näherten. Doch als sie zu fliehen versuchten, fanden sie keinen Ausgang. Sie waren in den Fängen des Zirkus gefangen, und der Clown beobachtete sie mit einem grimmigen Lächeln.
„Die Show hat gerade erst begonnen“, flüsterte der Clown. „Und ich erwarte von euch, dass ihr mitspielt.“
Die Dunkelheit verschlang sie, und das Zelt, das noch immer von den verzerrten, unheimlichen Echos des Clowns hallte, wurde immer leerer und leerer. Doch die Kinder wussten eines: Sie waren nicht die ersten, und sie würden nicht die letzten sein.
Kapitel 3: Der Kreis der Schatten
Der Zeltboden fühlte sich immer instabiler an, als ob er unter ihren Füßen wegzubrechen drohte. Die Luft war dicker geworden, fast klebrig, und schien von der Präsenz der anderen Wesen im Zelt zu vibrieren. Max, Lucy und Sarah waren nun vollständig von der Dunkelheit umhüllt, und der Zirkus, den sie betreteten, war längst zu einem Albtraum geworden, aus dem es kein Entkommen zu geben schien.
„Warum tut er das?“ flüsterte Sarah, ihre Stimme war kaum hörbar, und sie wischte sich über das Gesicht, als ob sie versuchte, sich von einer unsichtbaren Last zu befreien. „Warum nimmt er uns hier rein? Was will dieser… dieser Clown?“
Der Clown stand vor ihnen, regungslos, das groteske Grinsen weiterhin auf seinem Gesicht. Doch in seinen Augen flackerte ein unheilvolles, fast teuflisches Leuchten. „Ihr fragt zu viel“, sagte er mit einer Stimme, die zwischen höhnisch und sanft schwankte. „Es gibt Dinge, die man nicht wissen sollte. Ihr habt euch hierher verirrt, ohne zu verstehen, was hier vor sich geht.“
Max, der immer noch zu fassungslos war, um sich wirklich zu wehren, sah sich um. Das Zelt war zu einem riesigen Labyrinth aus Schatten geworden, und die anderen Figuren – die dämonisch verzerrte Frau, die er nun als die „Tänzerin“ zu erkennen glaubte – hatten sich in die Dunkelheit zurückgezogen. „Wo sind wir? Was ist das für ein Ort?“
„Ein Ort, der keine Zeit kennt“, antwortete der Clown, seine Stimme jetzt wie ein Wispern, das durch die Stille schlich. „Dieser Zirkus ist mehr als ein Zelt, mehr als eine Vorstellung. Er ist ein Nexus, ein Schnittpunkt zwischen den Welten. Ein Ort, wo verlorene Seelen ihre ewige Ruhe finden. Wo sie zum Teil von etwas werden, das nie endet.“
Lucy fühlte sich wie betäubt von der zunehmenden Dunkelheit, die sich immer weiter ausbreitete, als ob der Zirkus in ein tiefes, schwarzes Loch hineinsog. „Das ist verrückt“, murmelte sie. „Wir müssen hier raus… sofort!“
„Oh, meine Liebe“, sagte der Clown, und sein Lächeln dehnte sich weiter aus, „es gibt kein Entkommen mehr. Ihr seid bereits Teil der Show. Ihr werdet nie wieder den Ausweg finden.“
„Das ist nicht wahr!“ rief Max. „Wir finden einen Weg, das hier zu überstehen. Das werden wir!“
Doch der Clown lachte nur und begann, langsam um sie herum zu kreisen. „Das ist nicht nur eine Show“, sagte er flüsternd. „Das hier ist ein Ritual. Ihr seid die nächsten Opfer. Und jetzt müsst ihr lernen, was es bedeutet, in meinem Zirkus zu sein.“
Plötzlich begann das Zelt, sich zu verändern. Die Wände, die eben noch das weiße Canvas der traditionellen Zirkusstruktur waren, begannen zu verschmelzen und wurden von Rissen durchzogen, aus denen ein unheimliches, rotes Licht strahlte. Die Luft war nun erfüllt von einem schwachen, aber immer lauter werdenden Summen. Max’ Herz schlug bis zum Hals, als er versuchte, sich einen klaren Gedanken zu machen.
„Sie wollen uns fangen“, flüsterte Sarah, als sie die sich bewegenden Schatten an den Wänden bemerkte. „Alle diese Figuren, sie sind hier, um uns zu fangen.“
Der Clown drehte sich langsam zu ihr um, und sein Blick war voller intensiver Erwartung. „Genau, meine Liebe. Ihr seid die neuesten Akteure in meiner kleinen Vorstellung. Ihr habt euch freiwillig eingelassen, ohne es zu wissen. Und jetzt müsst ihr zeigen, dass ihr Teil des Ganzen werdet.“
Er zeigte auf die Tänzerin, die sich jetzt wieder im Hintergrund bewegte und in einer langsamen, wirbelnden Bewegung um das Zelt schritt. Ihre Bewegungen waren so graziös wie eine Tänzerin, aber mit einer erschreckend unheimlichen Eleganz. Ihr Körper war fast so zerfallen, dass es kaum noch wie ein Mensch aussah. Ihre blassen Knochen schimmerten durch die zerrissene Haut.
„Sie ist das erste Opfer gewesen“, sagte der Clown in einem tiefen, fast gehauchten Ton. „Vor Jahren kam sie zu mir, ebenso wie ihr. Ihr hatte ich nichts anderes zu bieten, als die Freiheit. Doch Freiheit im Zirkus bedeutet etwas ganz anderes. Ihr werdet sehen…“
Max, der den Schmerz und das Kältegefühl spürte, das durch seine Glieder schlich, begann zu realisieren, dass sie alle in etwas viel Größeres hineingezogen worden waren. Etwas, das aus unvorstellbaren Tiefen stammte und niemals einen Ausweg kannte.
„Was wirst du mit uns tun?“ fragte Lucy, ihre Stimme war eine Mischung aus Angst und Wut.
Der Clown ging einen Schritt näher. „Ich werde euch nicht nur das Leben nehmen, meine Liebe. Ich werde euch das Leben zeigen, das ihr niemals gekannt habt. Hier in meinem Zirkus werdet ihr Teil von etwas Unsterblichem. Ihr werdet die Grausamkeit verstehen, die euch erwartet, wenn ihr euch meiner Vorstellung hingebt.“
Max konnte nun deutlich sehen, wie sich die Schatten des Zirkus um sie herum verwoben. Er spürte, wie das Gefühl von Freiheit, von Sicherheit, von allem, was er jemals gekannt hatte, zu einem fernen Traum wurde. Der Clown drehte sich langsam zu den anderen Figuren im Zelt, die sich ebenfalls begannen zu bewegen, als würde eine unsichtbare Kraft sie lenken. Jeder Schritt, jede Geste schien durch die Luft zu schlittern, wie das Streifen von Schwingen eines längst vergessenen Dämons.
„Ihr werdet sehen“, sagte der Clown leise. „Euer erster Schritt auf dieser Bühne wird euch zu etwas ganz anderem machen. Ihr werdet euch verwandeln, genauso wie sie. Und vielleicht werdet ihr es bereuen, diesen Zirkus betreten zu haben.“
Mit einem letzten, finsteren Blick auf die Kinder, drehte sich der Clown zu der Tänzerin um und begann, mit ihr eine bizarre, rhythmische Bewegung zu machen. Die anderen Schatten, die sich durch das Zelt schlichen, begannen sich mit ihnen zu synchronisieren. Es war, als ob die ganze Welt um Max, Lucy und Sarah zusammenbrach.
„Seid bereit“, flüsterte der Clown.
Und plötzlich war es, als ob das Zelt explodierte, die Dunkelheit verschlang alles.
Kapitel 4: Das Ende der Show
Das Zelt war nun ein Meer aus Schatten, die sich wie lebendige Wesen um Max, Lucy und Sarah schlangen. Die Wände, die vorher wie ein Zirkuszelt aussahen, hatten sich vollständig aufgelöst und wurden zu einer dicken, undurchdringlichen Dunkelheit. In dieser finsteren Umarmung schien es keine Luft mehr zu geben, nur das bedrohliche Summen und die eiskalte Stille, die wie ein Vorbote des Unheils in der Luft lag.
Max kämpfte gegen die lähmende Angst, die sich in seinem Körper ausbreitete. Er konnte das Kribbeln in seinen Fingerspitzen spüren, das wie das erste Anzeichen einer drohenden Entgrenzung war. Die Figuren, die vorher still um sie herum standen, begannen sich nun zu bewegen – wie Schatten, die aus einem Albtraum erwacht waren.
„Wir müssen hier raus!“, rief Lucy mit einer Stimme, die mehr Entschlossenheit verriet, als sie fühlte. Sie zog Max und Sarah hinter sich, als sie versuchten, durch das Dunkel zu navigieren. Doch jeder Schritt schien sie weiter in die tiefe, erdrückende Schwärze zu führen.
Der Clown, dessen Grinsen in der Dunkelheit wie das eines wilden Tieres zu leuchten schien, ging auf sie zu. „Ihr könnt nicht entkommen“, sagte er mit einer Stimme, die immer mehr wie das Heulen des Windes klang. „Es gibt keinen Ausgang aus dieser Vorstellung. Ihr gehört jetzt hierher.“
Max versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch es war fast unmöglich, sich nicht von der Atmosphäre des Zirkus vereinnahmen zu lassen. In der Finsternis erschien das unheimliche Bild der Tänzerin wieder, ihr blasser, fast durchsichtiger Körper zuckte mit einer unnatürlichen Anmut. Ihr Blick war leer, und doch spürte Max eine tiefe Traurigkeit in ihr, die fast greifbar wurde.
„Sie ist… eine von uns“, flüsterte Lucy. Ihre Stimme war leise, als ob sie versuchte, die Worte nicht in die Dunkelheit zu werfen. „Einmal hier, für immer hier.“
„Richtig“, sagte der Clown, der sich immer näher an sie heranpirschte. „Einmal im Zirkus, immer im Zirkus. Ihr werdet nie wieder entkommen, nie wieder in eine Welt zurückkehren, die euch vertraut ist. Der Zirkus ist ein Kreis, der immer weiter geht. Wenn ihr einmal drinnen seid, seid ihr für immer Teil der Show.“
Plötzlich erleuchtete ein grelles Licht das Zelt. Ein blutrotes Licht, das von einer unsichtbaren Quelle ausstrahlte und die Dunkelheit durchbrach. Max, Lucy und Sarah hielten sich die Augen zu, doch der Lichtstrahl schien keinen Schmerz zu verursachen. Es war, als ob der Zirkus selbst die Dunkelheit abwehrte.
„Was ist das?“, rief Sarah panisch. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Das Licht flimmerte und verschwand, nur um in einem einzigen, riesigen Aufblitzen wieder zu erscheinen. In diesem Moment hörte Max das erste Mal, dass der Clown nicht mehr lachte. Stattdessen hatte er das Gesicht verzogen, als ob er unter einer unsichtbaren Last litt.
„Das darf nicht geschehen…“, murmelte der Clown, als er sich vom Licht zurückzog. „Ihr habt es… freigelegt. Ihr habt den Kreis gestört!“
Es war ein Moment der Klarheit, der wie ein harter Schlag ins Gesicht kam. In diesem kurzen Augenblick, als der Clown seine Verzweiflung zeigte, erkannte Max, dass die Dunkelheit, der Zirkus und alles, was sie erlebten, nicht natürlich war. Es war nicht nur eine Falle. Es war ein Ort, der von einer übernatürlichen Macht besessen war. Etwas, das der Clown und seine „Show“ nicht vollständig kontrollieren konnten. Etwas, das sie selbst befreiten.
„Max!“, schrie Lucy. „Jetzt! Wir müssen den Kreis durchbrechen, bevor er uns alle in den Abgrund zieht!“
Max wusste sofort, was zu tun war. Sie mussten die Quelle des Lichts finden, das den Clown in seiner Macht zu schwächen schien. Der Zirkus war nicht nur eine Falle – es war eine Bewusstseinsfalle. Der Clown war ein Symbol der Dunkelheit, das seine Opfer in einen Kreis von Albträumen und Angst führte. Doch es war das Licht, das die Dunkelheit durchbrach, das Symbol für das, was das Böse aufhalten konnte.
Er griff Lucy und Sarah bei den Händen und zog sie in die Richtung des Lichts. Der Clown, dessen Grinsen immer mehr in eine Verzerrung aus Hass und Verwirrung überging, rannte auf sie zu, doch das Licht hielt ihn zurück. Langsam, fast wie in Zeitlupe, schrumpfte der Zirkus um sie herum, die Wände fielen zusammen und die Schatten verflogen. Der Clown war zu weit von ihnen entfernt, um sie zu stoppen.
„Es ist vorbei“, sagte Max, der das Gefühl hatte, als ob er endlich wieder atmen konnte. „Das Licht hat gewonnen.“
Doch bevor sie weitergehen konnten, hörten sie ein leises Flüstern. Es war der Clown. Seine Stimme kam aus der Dunkelheit, die sich nun um sie schloss.
„Das Ende kommt nicht für euch… Es ist nur der Anfang“, flüsterte er. „Der Zirkus wird immer wieder zurückkehren…“
Mit einem letzten, entschlossenen Schritt traten Max, Lucy und Sarah aus dem Zelt heraus und in das grelle Tageslicht. Sie waren frei. Der Zirkus, der Albtraum, der Clown – alles verschwand hinter ihnen. Doch sie wussten tief in ihrem Inneren, dass das Dunkel niemals ganz verschwunden war. Es würde immer in den Schatten lauern, bereit, sich wieder zu zeigen.
„Was auch immer passiert“, sagte Max leise, „wir sind frei. Aber wir dürfen nie vergessen, was uns hierher geführt hat.“
„Und was das bedeutet“, fügte Lucy hinzu, „wenn der Zirkus wiederkommt.“
Der Wind wehte leicht, und mit jedem Schritt, den sie entfernten, wurde der Zirkus mehr und mehr zu einer Erinnerung – eine Erinnerung, die sie nicht losließ, selbst wenn sie versuchten, sie zu vergessen.
Doch sie wussten, dass sie jederzeit wieder vor der Tür stehen könnten. Und beim nächsten Mal würden sie bereit sein.
Epilog
Es war Jahre vergangen, seit Max, Lucy und Sarah den Zirkus des Clowns verlassen hatten, doch die Erinnerung daran war immer noch frisch in ihren Köpfen. Kein Monat verging, ohne dass einer von ihnen sich an das unheimliche Zelt, den finsteren Clown und das kalte Lächeln des Unbekannten erinnerte. Sie waren nie wirklich frei davon. Die Schatten des Zirkus schlichen immer noch in den Ecken ihres Bewusstseins herum, wie gespenstische Gesellen, die nie ganz verschwinden wollten.
Max hatte alles versucht, um sich von der Erinnerung zu befreien. Er zog in eine neue Stadt, suchte sich eine neue Arbeit, versuchte zu vergessen. Doch egal, wie oft er die Umgebung wechselte, der Zirkus war immer noch bei ihm. Es waren nicht nur die Albträume, die ihn verfolgten, sondern auch die seltsamen, zufälligen Ereignisse, die in letzter Zeit immer häufiger vorkamen. Manchmal hörte er in der Ferne ein Lachen – ein verzerrtes, klares Lachen, das ihn an den Clown erinnerte.
Lucy war nach dem Vorfall in den letzten Jahren noch stiller geworden. Sie hatte immer wieder das Gefühl, dass der Zirkus sie nie verlassen hatte, dass er nach ihr suchte. Als wäre er nur in der Pause und bereit, sie jederzeit wieder in seine düstere Welt zu ziehen. Manchmal sah sie Dinge, die sie sich nicht erklären konnte: ein flimmerndes Licht in der Ferne, ein Kind, das in einem Schatten verschwand, ein Lächeln, das sie auf der Straße für den Bruchteil einer Sekunde zu kennen glaubte.
Sarah hatte es am schwersten. Sie war diejenige, die den Zirkus in den dunkelsten Stunden ihres Lebens wirklich spürte. Das Wissen, dass sie die Kontrolle verloren hatte und in einer Welt der Dunkelheit gefangen war, war eine Last, die sie nie wirklich ablegen konnte. Auch sie versuchte, ihr Leben neu zu beginnen. Doch es war nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatte. Die Spuren des Zirkus waren wie unsichtbare Fäden, die sie immer wieder an diesen Ort zurückzogen.
Eines Tages, als die Sonne durch das Fenster von Max‘ Wohnung fiel, hörte er das Lachen wieder. Es war so klar, so unverkennbar. Der Zirkus, dachte er. Der Zirkus ist wieder da.
Und diesmal, diesmal waren sie nicht bereit.
Max zog das alte, verstaubte Foto aus seiner Schublade. Es zeigte ihn, Lucy und Sarah zusammen, lachend, während sie das Zelt hinter sich ließen. Der Tag, an dem sie geglaubt hatten, sie hätten den Albtraum überstanden.
„Das war ein Fehler“, murmelte er, während er das Bild in den Händen drehte. „Wir hätten nie das Zelt verlassen dürfen.“
Er wusste, dass der Zirkus sie wieder haben wollte. Und das Lachen, das in der Ferne hallte, war ein Vorbote des Beginns. Ein Anfang des endlosen Zyklus. Sie hatten den Zirkus verlassen, doch der Zirkus würde sie immer wieder finden, immer wieder in seine düsteren Mauern ziehen. Einmal ein Teil der Vorstellung, immer ein Teil der Vorstellung.
Der Zirkus hatte niemals aufgehört. Und er würde immer wieder kommen.