Das Flüstern der Schatten

Kapitel 1: Die Schatten von Saint Althea


Es war eine jener düsteren Wintermorgen, an denen der Himmel über dem abgelegenen Kloster von Saint Althea in einem trüben Grau verschwand. Der Wind heulte durch die dichten Wälder, die das Kloster umgaben, und ließ die Bäume in unheimlichem Rhythmus knarren. Die Mauern des Klosters, jahrhundertealt und vom Zahn der Zeit gezeichnet, schienen die Geschichten der vergangenen Generationen in sich aufgesogen zu haben. Doch für Schwester Eleonora, die an diesem Tag in das Kloster aufgenommen wurde, war es mehr als nur ein unscheinbarer, friedlicher Ort des Gebets und der Stille. Etwas lag in der Luft, das sie noch nicht greifen konnte.


Sie trat durch das massive Holztor, das nur von der schwachen Sonne des Vormittags beleuchtet wurde. Es knarrte in den Angeln, als sie die Schwelle überschritt. Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden wider, als sie den Innenhof des Klosters betrat, der sich in einer eigenartigen Stille ausbreitete. Ein leichter Nebel, der von der feuchten Erde aufstieg, hüllte alles in einen undurchdringlichen Schleier. Die Atmosphäre war drückend, so als würde der Himmel selbst das Kloster in einen Mantel aus Dunkelheit und Geheimnissen hüllen.


„Willkommen, Schwester Eleonora“, sagte eine leise, fast flüsternde Stimme hinter ihr. Sie drehte sich erschrocken um und sah eine ältere Nonne in der typischen Tracht des Klosters stehen. Ihre Augen waren durchdringend, als würde sie mehr sehen können, als das, was auf den ersten Blick sichtbar war. „Ich bin Schwester Beatrice. Ich werde dich in den ersten Tagen unterrichten.“


Eleonora nickte, ohne ein Wort zu sagen. Sie fühlte sich unbehaglich unter dem Blick der älteren Nonne, als ob sie in ihre Seele schauen konnte. Beatrice straffte sich und führte sie dann ohne weitere Worte in das Innere des Klosters.
Die Wände des Klosters waren in dicken Schatten gehüllt, selbst tagsüber, und der Duft von altem Holz und Kerzenrauch lag in der Luft. Der lange Gang, den sie entlanggingen, war von hohen, bogenförmigen Fenstern gesäumt, doch selbst das spärliche Licht des Morgens schien von den Wänden verschluckt zu werden, bevor es den Boden erreichte.


„Wir haben alle unseren Platz hier“, sagte Schwester Beatrice, als sie die Zellen der Nonnen passierten. „Die Ruhe des Klosters ist ein Spiegel der Ordnung, die wir bewahren wollen. Jeder Schritt, jeder Atemzug ist durch das Gebet geleitet. Doch nicht jeder findet seinen Frieden hier. Manche bleiben im Kloster gefangen, aber nicht in der Art, wie du es dir vorstellst.“


Eleonora verstand nicht ganz, was Beatrice meinte, doch die Worte weckten eine seltsame Unruhe in ihr. Was meinte sie mit „gefangen“? Und warum klang ihre Stimme plötzlich so düster?
Sie erreichten schließlich ihre Zelle – ein kleines, bescheidenes Zimmer am Ende des Flurs. Es war spartanisch eingerichtet, mit einem einfachen Bett, einem Schreibtisch und einem kleinen Fenster, das den Blick auf den Klosterhof freigab. Doch als Eleonora sich umdrehte, spürte sie einen seltsamen Blick auf sich. Etwas, das sie aus der Dunkelheit der Ecken des Raumes anstarrte. Ihre Augen suchten die Schatten, die in den Ecken der Zelle lagen, doch sie sah nichts – nur die blinden Fenster und die dünnen Ritzen in den Wänden, durch die der Wind zischte.


„Schwester Eleonora“, sagte Schwester Beatrice mit einem Hauch von Besorgnis in ihrer Stimme. „Ich muss dir noch etwas zeigen.“
Bevor Eleonora fragen konnte, was sie meinte, ging Beatrice bereits voraus und öffnete eine weitere Tür, die sich hinter dem Schreibtisch verbarg. Diese führte zu einem kleinen Raum, der mit Staub und alten Büchern überfüllt war. In der Mitte des Raumes stand ein alter Altar, auf dem ein schweres, verstaubtes Buch lag. Es hatte einen schwarzen Einband, der mit vergilbten Goldverzierungen versehen war.


„Dies ist das Buch der Geschichte des Klosters“, erklärte Schwester Beatrice, als sie das Buch aufschlug. „Es enthält alles, was sich in den Schatten dieses Ortes abgespielt hat – die Geheimnisse, die vergessen wurden, und die Wahrheiten, die nie ans Licht kommen dürfen.“
Eleonora trat näher und sah auf die vergilbten Seiten, die mit handschriftlichen Notizen versehen waren. Sie konnte nur einzelne Worte erkennen – Fluch, Dunkelheit, Nicht-Entkommen. Ihre Finger berührten das Papier, als wollte sie mehr wissen, doch Beatrice legte eine Hand auf ihre Schulter.


„Nicht alles, was hier geschrieben steht, ist für dich bestimmt, Schwester. Du hast dein Leben in das Kloster eingeweiht, doch manche Dinge, die mit diesem Ort verbunden sind, sind nicht für die Unwissenden. Es gibt eine Geschichte, die wir dir nicht erzählen können, aber die du irgendwann erfahren wirst, wenn du das Kloster wirklich verstehst.“


Die Worte der älteren Nonne ließen Eleonora nicht los. Die Geschichte des Klosters war mehr als nur eine Sammlung alter Texte. Sie war ein Mysterium, ein Netz aus Lügen und Wahrheiten, die tief unter der Oberfläche der heiligen Mauern verborgen lagen.
In den nächsten Tagen versuchte Eleonora, sich in den alltäglichen Aufgaben des Klosters zu finden. Doch die Schatten blieben. Immer wenn sie in den späten Stunden durch den Gang ging, bemerkte sie aus den Augenwinkeln die gleichen geisterhaften Silhouetten, die zwischen den Mauern lauerten. Bei den Gebeten spürte sie einen kalten Hauch, der ihre Haut prickeln ließ. In der Bibliothek, die tief in den Kellergewölben des Klosters lag, hatte sie das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden.


Es war eine der älteren Nonnen, Schwester Johanna, die das erste Mal die Worte „Schwester Maria“ aussprach. Es war in einem Gespräch über die Geschichte des Klosters, das Eleonora zufällig belauschte. Die Nonnen sprachen von einer Nonne, die vor langer Zeit hier im Kloster lebte – Schwester Maria. Doch die Geschichte war von einer seltsamen Faszination umgeben.
„Schwester Maria war keine gewöhnliche Nonne“, flüsterte Schwester Johanna, als sie bemerkte, dass Eleonora zuhörte. „Sie hatte … besondere Gaben. Doch sie öffnete ein Tor, das niemand öffnen sollte. Sie barg die Dunkelheit in sich und wurde Teil davon. Seitdem sind wir hier nicht mehr sicher. Manche sagen, sie ist noch immer bei uns.“


Eleonora wusste nicht, was sie von diesen Worten halten sollte. Doch sie spürte ein Ziehen in sich, eine unerklärliche Neugier, die sie dazu trieb, immer mehr über Schwester Maria und den Fluch, der das Kloster heimsuchte, zu erfahren.
Doch nichts konnte sie auf das vorbereiten, was sie noch in den kommenden Tagen erleben würde. Etwas Dunkles, etwas Unheimliches, wartete auf sie – und es würde bald kommen.

Kapitel 2: Das flüsternde Geheimnis


Die Nächte im Kloster waren lang und von einer bedrückenden Stille durchzogen. Eleonora hatte sich mittlerweile an die streng ritualisierten Tage gewöhnt, doch die Schatten, die das Kloster umgaben, ließen sie nie ganz los. Wenn der Mond hinter den Wolken verschwand und der Wind über das Klostergelände heulte, schien es, als würde der Ort selbst atmen. Die Mauern fühlten sich lebendig an, pulsierend in einem Rhythmus, der den der Nonnen überlagerte.


In dieser Nacht war es besonders still. Eleonora lag wach in ihrem Bett, das sich zu einem kleinen, dunklen Raum an der Wand des Klosters öffnete. Der Regen klopfte leise gegen das Fenster, und das Geräusch erinnerte sie an das sanfte Rauschen von Wellen, doch es war eine trügerische Ruhe. Es war immer die gleiche Stille, die sie so sehr quälte. Sie spürte, dass etwas in der Dunkelheit lauerte – etwas, das sie nicht sehen konnte, aber das dennoch sehr real war.


Die dunklen Ecken ihrer Zelle schienen sich zu verdichten, und immer wieder konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass jemand in der Nähe war. Als sie sich schließlich entschloss, aus dem Bett zu steigen, um sich ein Glas Wasser zu holen, fiel ihr Blick auf den Tisch, wo das verstaubte Buch lag, das Schwester Beatrice ihr gezeigt hatte. Es war offen geblieben – ein Zeichen, dass jemand es wohl irgendwann zur Seite gelegt hatte. Doch heute war das Buch anders.


Als Eleonora näher trat, spürte sie eine seltsame Wärme von den Seiten ausgehen, die sie in der Dunkelheit wie ein Magnet anzog. Ihre Finger berührten vorsichtig die alten, vergilbten Seiten, und zu ihrem Entsetzen schien das Buch fast zu vibrieren. Ein leichter Windstoß fuhr durch den Raum, als sie es aufschlug. Diesmal war die Schrift auf den Seiten nicht mehr in der vertrauten Handschrift zu erkennen. Die Worte, die sich vor ihr entfalteten, waren seltsam verzerrt, als ob die Tinte sich bewegte, um sich selbst zu entziehen.


„Die Dunkelheit erwartet dich, Schwester“, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie fuhr erschrocken zusammen und drehte sich hastig um. Doch der Raum war leer. Nichts. Es war wieder diese Stille, die das Kloster beherrschte. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Sie starrte auf das Buch, und ihre Augen fingen an, die seltsamen Worte zu entziffern, die sich vor ihr auf dem Papier formten.


„Schwester Maria“, flüsterte die Schrift, als sie das nächste Wort erfasste. Es war, als würde der Name selbst eine tiefe, unerklärliche Macht über sie haben. Ihre Hände begannen, das Buch weiter umzublättern, als ob sie keinen Einfluss mehr auf ihren Körper hatte. Mit jedem Wort, das sie las, vertiefte sich die Dunkelheit, die den Raum durchdrang.
„Schwester Maria, sie barg den Fluch. Sie öffnete das Tor, und der Nebel kam, und die Dunkelheit strömte herein.“
Eleonora konnte den Schmerz in den Worten beinahe spüren – eine lebendige Erinnerung an etwas, das längst vergangen war. Ein vergessenes Mysterium, das nicht hätte gelüftet werden dürfen. Sie versuchte, das Buch wegzulegen, doch ihre Hände weigerten sich, den Kontakt zu brechen. Stattdessen fuhr sie weiter, als ob sie in einem Rausch aus Faszination und Angst gefangen war.


„Die Nonne, die den Weg des Schatten ging, ist immer noch hier. Ihre Präsenz ist unaufhaltsam, wie der Ruf der Tiefe.“
„Was bedeutet das?“ Eleonora flüsterte die Worte laut aus, als ob das Rätsel durch den Klang ihrer Stimme entwirrt werden könnte. Doch die Antwort war nicht in den Worten des Buches zu finden. Etwas anderes zog sie an – etwas tief im Kloster, das mit der Geschichte von Schwester Maria zusammenhing.
Der Raum schien sich zu verändern, die Wände atmeten, und die Luft wurde schwer. Sie ließ das Buch endlich fallen, als die Türen ihres Zimmers plötzlich aufbrachen und sie wie von unsichtbarer Hand nach draußen zogen. Ihre Füße setzten sich in Bewegung, als ob ein unsichtbarer Zwang sie trieb, den langen Korridor entlangzugehen, der in die tiefsten Kellergewölbe des Klosters führte.


Die Dunkelheit in den Gängen war dicht, fast greifbar. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, während sie tiefer in das Kloster vordrang, als würde sie von einem unbändigen Drang angetrieben. Sie wusste nicht, was sie suchte, aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie es finden musste. Die Antworten, die ihr in den Augenblicken der Einsamkeit und des Stillschweigens immer wieder entglitten waren, würden in den Schatten des Kellergewölbes verborgen sein.


Als sie die steinerne Wendeltreppe hinabstieg, stieg ein Kältegefühl in ihr auf, das sie bis in die Knochen fror. Der Atem in ihrer Kehle bildete kleine Nebelschwaden, die sich im kalten Raum verloren. Und dann, plötzlich, war da ein Geräusch – ein leises Klopfen, fast wie das Klopfen von etwas, das aus der Tiefe selbst heraufstieg.


Sie erreichte das Ende der Treppe und fand sich in einem langen, fensterlosen Raum wieder, dessen Wände von dicken, verrosteten Eisenketten gesäumt waren. In der Mitte des Raumes stand ein alter, aus Stein gemeißelter Altar. Doch es war nicht der Altar, der ihre Aufmerksamkeit fesselte, sondern die Statue, die auf ihm thronte.


Es war eine Figur – eine Nonne, mit einem strengen, nahezu leblosen Gesicht. Ihre Augen aus tiefem, schwarzem Marmor starrten in die Leere, und ihre Hände hielten ein Buch, das Eleonora an das vergilbte Buch aus ihrer Zelle erinnerte. Das Gesicht war nicht nur aus Stein – es schien lebendig, als ob die nonnengleiche Figur gerade in den Raum blicken würde, als ob sie sich in der Dunkelheit versteckte und nur darauf wartete, von einem mutigen Herzen erweckt zu werden.


„Maria… Schwester Maria…“, flüsterte Eleonora, die Worte entglitten ihr wie ein Gebet. Doch dann ertönte aus den Schatten eine Stimme, die tief und furchterregend klang. Sie konnte sie nicht genau orten, aber sie wusste, dass sie zu ihr sprach:
„Du hast den Ort gefunden, Schwester. Aber du hast noch nicht den wahren Preis erfahren. Der Fluch ist stärker als du denkst. Der Nebel, den Maria ins Kloster brachte, wird dich holen.“


Mit einem Ruck fuhr sie herum, doch der Raum war leer – niemand war da, keine Geister, keine Schatten. Nur die Statue der Nonne, die sie mit ihren dunklen, steinernen Augen ansah.
Doch Eleonora wusste, dass sie von nun an nicht mehr allein war. Sie war in etwas viel Dunkleres und Ungeheuerlicheres geraten, als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

Kapitel 3: Das Tor der Verdammnis


Die Wände des Kellergewölbes schienen zu atmen. Eleonora stand vor der Statue der Nonne, deren Augen aus schwarzem Marmor sie weiterhin starrten. Ihr Blick war so intensiv, als würde die steinerne Figur mehr wissen, als sie preisgeben wollte. Ein leichter Wind zog durch den Raum, der von der kalten Luft der unterirdischen Gänge getragen wurde, und flüsterte Worte, die niemand aussprechen konnte – Worte, die jedoch in Eleonoras Kopf widerhallten.


„Du bist zu spät“, flüsterte die dunkle Stimme erneut, und diesmal klang sie näher, lauter, als ob sie direkt in ihrem Ohr sprach. „Der Nebel hat bereits begonnen, sich auszubreiten. Er wird auch dich holen.“
Eleonora versuchte, ihre Furcht zu unterdrücken. Sie war gekommen, um Antworten zu finden, nicht um sich von den Geistern der Vergangenheit in die Flucht schlagen zu lassen. Doch die Worte schienen ihr fest im Magen zu sitzen, und je länger sie vor der Statue stand, desto mehr schien der Raum sich zu verengen. Die Dunkelheit um sie wurde undurchdringlich, als ob die Mauern selbst von den Schatten verschlungen wurden.


„Was bedeutet das alles? Was habe ich hier gefunden?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch es schien, als ob der Raum jede ihrer Bewegungen wahrnahm, als ob selbst die Luft auf ihre Frage antworten wollte.
Ein leises Geräusch, wie das Rauschen von Stoff, drang an ihr Ohr. Langsam drehte sie sich um. In der Dunkelheit, direkt hinter ihr, erkannte sie eine schattenhafte Gestalt – eine Frau in einem alten Nonnenhabit, mit einem Gesicht, das von langen, silbernen Strähnen verborgen war. Ihre Augen waren von einem unheimlichen, fast übernatürlichen Blau, das in der Dunkelheit zu glühen schien. Die Frau hatte eine beruhigende, aber zugleich unheimliche Ausstrahlung.


„Du bist gekommen, um zu erfahren, was du nicht wissen solltest“, sagte die Frau in einer Stimme, die in Eleonoras Ohren widerhallte, als ob sie aus der Tiefe der Jahrhunderte stammte.
„Wer bist du?“ Eleonora trat einen Schritt zurück, doch die Frau kam näher. „Bist du Schwester Maria?“
Die Gestalt schüttelte langsam den Kopf. „Ich bin nicht Maria. Aber ich trage ihre Last. Der Nebel, der in diesem Kloster verweilt, ist nicht nur ein Geist. Es ist ein Fluch, der über dieses Land gekommen ist, und Maria war diejenige, die ihn entfesselte. Sie öffnete das Tor, und es konnte nicht wieder geschlossen werden.“


„Was ist dieses Tor? Und warum hast du dich nicht davor geschützt?“
Die Frau seufzte leise und trat einen Schritt näher, ihre blauen Augen durchdrangen Eleonora wie ein kalter Wind. „Es war niemals unsere Wahl, Schwester. Niemand im Kloster wusste, was sie tat, als sie das Tor öffnete. Sie glaubte, sie würde den Frieden bringen, aber der Nebel, der kam, brachte nur den Tod.“


„Du… du sprichst von dem Nebel, der die Nonnen… die Schwestern verschlungen hat, oder?“ Eleonoras Stimme war angespannt, und sie spürte, wie ihr Körper in Erwartung einer Antwort erstarrte.
Die Gestalt nickte. „Der Nebel ist nicht nur ein Zustand. Es ist der Ursprung von allem, was hier passiert. Es ist ein lebendiges Wesen, das nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen derer verschlingt, die sich ihm zu nahekommen. Und Maria war der Schlüssel. Sie hat das Tor zu dieser Welt geöffnet, ohne zu wissen, welche Konsequenzen das haben würde.“


„Was bedeutet das für mich? Was soll ich tun?“ Die Worte kamen fast verzweifelt aus Eleonora. „Ich kann das nicht alleine verstehen.“
„Du bist nicht allein“, antwortete die Frau ruhig, ihre Stimme war immer noch von dieser unheimlichen Ruhe durchzogen. „Du trägst das Erbe in dir. Das Tor, das Maria öffnete, ist noch nicht vollständig verschlossen, und das Kloster wird nie mehr in Frieden ruhen, bis der Nebel zurückkehrt, woher er kam. Doch dafür musst du den wahren Ursprung finden.“


„Wie kann ich das tun? Wo soll ich suchen?“ Eleonora spürte eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit, die sie durchströmte. Es war, als hätte sie einen unvorhersehbaren, dunklen Weg vor sich, den sie nun gehen musste – und der Weg führte immer tiefer in die Dunkelheit.
Die Gestalt der Nonne trat zurück und zeigte auf den Altar in der Mitte des Raumes. „Dort. Der Altar ist der Schlüssel. Doch er ist nicht nur ein Ort des Gebets. Hier wird die wahre Macht verborgen. Der Nebel, der die Nonnen verzehrte, beginnt in den Schatten, die sich unter ihm verbergen. Um den Fluch zu brechen, musst du den Ursprung des Nebels selbst finden. Doch sei gewarnt, Eleonora. Der Nebel ist wachsam. Er wird dich verfolgen, wie er Maria verfolgte. Du wirst nicht entkommen, bis der Fluch gebrochen ist.“


Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung der Frau so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Eleonora war allein. Allein mit den Schatten des Klosters und den düsteren Geheimnissen, die noch immer in der Luft hingen.
Sie wendete sich dem Altar zu, der nun bedrohlich und geheimnisvoll vor ihr stand. Es war, als ob er auf sie wartete, als ob der Altar selbst ein lebendiges Wesen war, das sie durch die Dunkelheit hindurch zu sich rief.
„Der Ursprung des Nebels…“ murmelte sie, während sie den ersten Schritt in die Richtung des Altars tat. Die Luft war nun schwerer, als hätte sich die Dunkelheit selbst über sie gelegt. Ihre Schritte hallten durch den Raum, und die Wände schienen sich um sie herum zu verengen.


Die Steine des Altars waren alt und abgenutzt, und in der Mitte war eine schimmernde Ritze, die sich in einem Muster von feinen Linien und Zeichen erstreckte. Es war ein mystisches Symbol, das sie zuvor nie bemerkt hatte. Ihre Finger berührten es vorsichtig. Als sie die Oberfläche des Altars anfasste, spürte sie eine unsichtbare Kraft, die durch ihren Körper zu fließen begann.


„Du hast es berührt“, hörte sie die gleiche, unheimliche Stimme wieder. „Nun bist du wirklich in der Dunkelheit.“
Mit einem Ruck begann der Altar sich zu öffnen. Das Geräusch war wie das Knacken von altem Holz und Eisen. In der Tiefe des Altars schimmerte ein düsteres Licht, das in das Unbekannte führte. Es war kein Licht, das Trost brachte – es war ein Licht, das den Beginn von etwas Uraltem und Bedrohlichem ankündigte.


„Der Nebel… er wird dich finden, Eleonora. Es gibt kein Zurück mehr.“
Der erste Schritt war getan. Aber Eleonora wusste, dass der Weg nun unaufhaltsam war. Der Nebel würde nicht nur ihr, sondern auch ihrem Schicksal folgen, wohin es sie auch führen mochte. Und sie würde den Ursprung finden – koste es, was es wolle.

Kapitel 4: Das Ende des Nebels


Die Dunkelheit hatte sich nun vollständig über das Kloster gelegt. Die wenigen Strahlen des Mondes, die durch die staubigen Fenster in die Hallen des alten Gebäudes fielen, schienen keine Hoffnung mehr zu schenken. Die Schatten bewegten sich in unnatürlichen Winkeln, als ob sie lebendig wären, als ob der Raum selbst etwas Böses in sich verbarg, das nur darauf wartete, hervorzubrechen.


Eleonora stand vor dem offenen Altar, der nun ein gähnendes, schwarzes Loch in der Mitte des Raumes darstellte. Das Licht, das aus dem Inneren drang, war kein sanftes, beruhigendes Leuchten, sondern ein pulsierendes, grelles Glimmen, das den Raum in einem unheilvollen Schein tauchte. Es war als ob die Dunkelheit selbst von innen heraus in den Altar strömte, eine nie endende Flut aus Verzweiflung und Verdammnis.


„Der Nebel wird nicht eher ruhen, bis er alles verschlungen hat“, flüsterte Eleonora, als ob sie die Worte selbst zu sich selbst sagte, um den Mut zu finden, weiterzugehen. Doch ihre Hände zitterten, als sie einen Schritt näher trat. Der Nebel hatte sie bereits gefunden, ihn spürte sie in jedem Atemzug, in jedem Ruck ihrer Muskeln, die sich gegen die Furcht aufbäumten. Doch die Antwort, nach der sie suchte, lag hinter dieser barriereartigen Schwelle aus Nebel und Dunkelheit.


Mit einem entschlossenen Atemzug, als würde sie sich auf das Unbekannte vorbereiten, griff Eleonora nach der alten, staubigen Kette, die den Altar schloss, und zog daran. Ein tiefes, dröhnendes Geräusch ertönte, als die Kette von der Oberfläche des Altars rutschte. Es war das Geräusch einer Welt, die sich öffnete, als ob die Erde selbst für einen Moment den Atem anhielt.


Plötzlich erfasste sie ein Schwall kalter, bösartiger Luft. Der Nebel strömte wie ein lebendiges Wesen aus dem Altar heraus, dichter und schwerer, als Eleonora es je hätte erwarten können. Er hüllte sie ein, verschlang die Wände um sie herum, bis nichts mehr von der alten Kapelle zu sehen war. Nur der Nebel, der sich wie ein unsichtbares Netz ausbreitete, umhüllte sie, in alle Richtungen, drängte sie in die Ecke der Verzweiflung.


„Du kannst nicht entkommen“, flüsterte eine Stimme aus dem Nebel, tief und unergründlich. Es war die gleiche Stimme, die sie die ganze Zeit über verfolgt hatte, doch jetzt klang sie nicht mehr wie ein Hauch aus der Vergangenheit – sie klang wie ein lebendiger Gedanke, der sich in ihr Gehirn eingebrannt hatte. „Es gibt keinen Fluchtweg für dich, wie es keinen Fluchtweg für Maria gab. Du hast die Grenze überschritten, die Grenze zwischen dieser Welt und jener. Du bist Teil des Nebels.“


Eleonora spürte, wie ihre Beine nachgaben und sie auf die Knie fiel. Der Nebel zog sie hinunter, umschlang ihren Körper, hüllte sie in eine kalte Umarmung, die sie beinahe erstickte. Ihre Atemzüge wurden flacher, ihre Gedanken verwirrter. Doch inmitten dieser Bedrängnis hörte sie erneut eine Stimme, eine andere, die sie fast vergessen hatte. Es war die Stimme der Frau im Keller.


„Du bist stärker, als du denkst“, hörte sie, doch dieses Mal klang die Stimme klar und beruhigend. „Der Nebel kann nicht siegen, wenn du den Mut findest, den wahren Ursprung zu konfrontieren. Der Schlüssel liegt in deinem Inneren. Du bist nicht wie Maria. Du bist nicht wie die anderen, die vor dir versuchten, zu entkommen. Du musst der Dunkelheit ins Gesicht sehen.“


Mit einem Ruck kam Eleonora wieder zu sich. Ihre Augen weiteten sich, als sie sich aufrappelte, den Nebel mit einer unfassbaren Willenskraft zurückdrängend. Sie war nicht hilflos. Sie konnte mehr tun, als sich von der Dunkelheit verschlingen zu lassen. Sie musste nur den Ursprung des Nebels finden, das wahre Herz des Fluchs.
Der Nebel war jetzt so dicht, dass sie fast nichts mehr sehen konnte. Doch irgendwo in der Ferne, hinter dem Nebel, glaubte sie, etwas zu erkennen. Eine Silhouette. Ein Schatten. Vielleicht Maria. Vielleicht eine weitere Erscheinung, die sie zu dem Ort geführt hatte, an dem der Ursprung des Nebels lag.


„Maria…“ murmelte Eleonora, und sie wusste, dass sie die letzte Frage stellen musste. „Was hast du wirklich getan?“
Die Antwort kam nicht sofort. Der Nebel war so dicht, dass sie das Gefühl hatte, in einem anderen Raum zu sein, in einem Raum, der durch die Zeit selbst hindurchging. Doch dann, als der Nebel plötzlich verstummte, hörte sie die Antwort.


„Ich habe das Tor geöffnet, aber es war kein Tor zu einer anderen Welt“, sagte die Stimme. „Es war ein Tor in uns selbst. Der Nebel ist nicht nur aus einer anderen Dimension. Er ist ein Teil von uns, ein Teil unserer dunkelsten Ängste und Wünsche. Maria wusste das nicht. Aber du weißt es. Du weißt, dass der Fluch nicht über ein Tor gekommen ist, sondern über die Herzen derer, die vor dir in dieser Abgeschiedenheit lebten.“


Eleonora starrte auf den Nebel, der vor ihr lag, und verstand plötzlich. Sie hatte sich geirrt. Sie hatte geglaubt, dass der Nebel eine äußere Bedrohung war, ein Monster aus einer anderen Welt. Doch der Nebel war immer ein Teil von ihnen gewesen, von den Nonnen, von Maria, von ihr. Die Dunkelheit, die sie bekämpfen musste, war nicht nur eine dunkle Kraft, die sie besiegte. Sie musste sich selbst überwinden.


Mit einem letzten, tiefen Atemzug blickte Eleonora in das Zentrum des Nebels, und dort, im Herz der Dunkelheit, begann sich etwas zu verändern. Der Nebel begann sich zu zerstreuen, langsam, unaufhaltsam. Er zog sich zurück, wie das Fortweichen einer Flutwelle, und ließ Eleonora allein in einem Raum voller Stille und Dunkelheit zurück.


Der Fluch war nicht verschwunden, aber der Nebel, der sie so lange gefangen gehalten hatte, war nicht mehr die Quelle ihrer Angst. Sie hatte das Tor gefunden, das nie wieder geschlossen werden konnte – das Tor in sich selbst. Und in dieser Erkenntnis fand sie ihre Freiheit.

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